Mit dem Fernzug durch die USA
Einmal quer durch Amerika – dieser Mythos treibt jedes Jahr ganze Massen an Autos und Campern auf die Straßen der USA. Wenn du jedoch nicht über 50 Stunden hinter dem Steuer verbringen möchtest, nicht die nötige Zeit mitbringst oder nur ein geringes Budget zur Verfügung hast, findest du in einem in den USA fast vergessenem Transportmittel die perfekte Alternative. Für 48 Stunden mache ich mich mit dem Zug auf den Weg durch die USA – einmal von Chicago nach Portland.
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Überpünktlich eine halbe Stunde vor Abfahrt an der Union Station in Chicago bildet sich vor dem Gleis eine zähe Schlange unterschiedlichster Menschen. Rentnerpaare, junge Backpacker, Familien und besonders die vielen Amish-Leute stechen hervor. Da die Amish in ihrer Religionsgemeinschaft weitestgehend auf moderne Technologien verzichten, bleibt ihnen für Langstrecken nur der Zug, der aus traditionellen Gründen noch angemessen unmodern ist. Ich hoffe natürlich auf das Gegenteil und begebe mich ins Gewühl beim Einlass.
Die vorderen Passagiere drängeln sich um die Pole Position für den Einlass. Die besten Plätze sind schnell vergeben, sagt mir ein Wartender. Die Schaffnerin beruhigt mich bei der Ticketkontrolle jedoch: Alle Plätze seien gleich schön. Außer den Schlafabteilen natürlich. Also suche ich mir einen freien Fensterplatz, verstaue mein Gepäck und lasse mich in den erstaunlich bequemen Sitz fallen.
Der Zug bewegt sich langsam aber unablässig vorwärts und ich ebenso. Ich brauche an nichts zu denken und komme trotzdem übermorgen in Portland an. Ich kann ein Buch lesen oder ein Nickerchen machen, der Empire Builder fährt trotzdem weiter der langsam untergehenden Novembersonne entgegen. Die Strahlen tasten sich durch die beschlagenen Scheiben, das ganze Abteil erleuchtet in goldenen Farben und bei mir breitet sich ein Gefühl aus, nach dem ich mich schon insgeheim bei der Buchung gesehnt habe: Entschleunigung.
Niemand ist in Eile
Nachdem ich mich an meinem Platz, der für die nächsten zwei Tage mein Zuhause sein sollte, eingerichtet habe, geht es für mich in die Sightseer Lounge, einem Aussichtswagon mit besonders großen Fenstern für den ultimativen Panoramablick. Hier treffe ich Jerry und Liz aus Montana, die wie ich die vorbeirauschende Landschaft und die kleinen trostlosen Dörfer in dem spätherbstlichen Sonnenlicht bestaunen. Die warmen, satten Farben täuschen aber über die tatsächliche Temperatur hinweg, wie die zugefrorenen Seen und Flüsse verraten.
"Vor zehn Jahren hättest du weit und breit nur Schnee gesehen", sagt mir Jerry. Stattdessen umringt den Zug in der untergehenden Sonne eine endlose Prärie. Jerry und Liz schätzen genau das an der Fahrt mit dem Empire Builder. "Du lässt dich wie die Landschaft da draußen treiben, niemand kann dich hetzen. Es ist wie eine kleine Auszeit", erklärt Liz. Die beiden waren auf Familienbesuch an der Ostküste und haben sich für diesen Anlass bewusst für den Zug entschieden. "Das ist eben unsere Art zu reisen", sagt Liz und fügt hinzu: "Schon als Studentin bin ich mit dem Interrail-Ticket durch Europa gereist."
Bei dem Gedanken an die mit Pendlern überfüllten Intercities sträuben sich mir die Haare. So entspannt wie mit dem Empire Builder ist die Zugfahrt in Deutschland aber nicht unbedingt, erzähle ich. "In diesem Zug ist auch niemand in Eile", sagt Jerry. "Wer hier mitfährt, der legt es nicht auf Pünktlichkeit an. Ein paar Stunden Verspätung sind nichts Ungewöhnliches", Das liegt daran, dass in den USA – anders als wir es gewohnt sind – der Güterverkehr Vorrang vor dem Personenverkehr hat. Und tatsächlich hält auch der Empire Builder immer wieder kurz an und auf dem anderen Gleis rauschen Container, Autos oder leere Anhänger vorbei in die Nacht hinein.
Mit dem Science-Fiction-Autor Jim im Speisewagen
Nachdem das letzte Rot des Sonnenuntergangs am Himmel verschwunden ist, geht eine eine Leselampe nach der anderen aus und im Abteil wird es schlagartig leise. Trotz einer holprigen Nacht und dem schnarchenden Vordermann schlafe ich auf dem Sitz wirklich gut. Wer braucht da schon ein Schlafabteil? Die Antwort erhalte ich am nächsten Tag zum Lunch.
Da die Anzahl an Plätzen im Speisewagen begrenzt ist, werden die Passagiere der Reihe und damit dem Zufallsprinzip nach an den freien Tischen platziert. So kommt es, dass ich dem Science-Fiction-Autoren Jim gegenüber sitze, der sich für die Fahrt in einem Schlafabteil eingemietet hat. Er ist bereits eine Woche zuvor aus San Francisco mit dem Zug nach Chicago aufgebrochen und kehrt nun über den Umweg Portland zurück. "Auf Gleisen kann ich mich komplett auf das Schreiben konzentrieren, daher bin ich hier so etwas wie ein Stammgast, könnte man sagen", erzählt er mir.
Bei einem Glas Wein berichtet Jim mir von der Arbeit an seinem neuesten Werk. Nach dem Essen lädt er mich für ein Foto in sein Abteil ein, wo er mir stolz seinen Arbeitsplatz präsentiert. Ich hingegen bin froh, dass ich mir 460 Dollar gespart habe, denn so richtig luxuriös ist das Abteil nun auch nicht. Für Jim lohnt es sich jedoch allemal. "Einige meiner Bücher sind vollständig im Zug entstanden", sagt er. "Hier gibt es keinerlei unnötige Ablenkung, kein Internet, kein Handy-Empfang... nur die Arbeit, die Landschaft und dich selbst. Das ist perfekt."
Abends treffe ich Jim in der Sightseer Lounge wieder. Den zweiten Sonnenuntergang möchte er nun auch mit Rundumblick genießen, sagt er, "danach geht es aber wieder an die Arbeit." Ich bleibe allein zurück mit dem einmalig roten Himmel über der dunklen kargen Landschaft, die sich seit gestern kaum verändert hat. Am Horizont sind die ersten Ausläufer der Rocky Mountains zu sehen, doch bevor wir die Gebirgskette erreichen, ist es bereits dunkel. Ich ertappe mich dabei, wie ich heimlich hoffe, dass uns die ganze Nacht über irgendwelche Güterzüge aufhalten, damit wir am nächsten Morgen mit Blick auf die Rockys aufwachen. So aber schlafe ich auf rauen Gleisen ein, nicht wissend, wo ich wieder aufwachen werde.
Sonnenaufgang über dem Columbia River
Der Sonnenaufgang über dem Columbia River in Oregon ist derart beeindruckend, dass sich um 7.30 Uhr morgens alle zusammen an den Fenstern versammeln, während sich der Empire Builder auf der letzten Etappe nach Portland befindet. Obwohl es auf der Reise größtenteils dunkel war, hat sich der Blick auf die unendlichen Weiten tagsüber so eingebrannt, dass die dichten Wälder der pazifischen Küstenregion auf einmal fast exotisch anmuten. Und während ich doch noch einmal an die verpasste Aussicht auf die Rocky Mountains denke, erscheint am Horizont die Spitze des Mount Hood. Knapp 3.500 Meter schießt der Vulkan in die Höhe und erscheint komplett in weiß fast unwirklich inmitten des fruchtigen Grüns der Nadelbäume.
Kurz danach fährt der Empire Builder in Portland ein. Die letzte Durchsage ertönt und ich sammle mein Gepäck zusammen, während die Schaffner ihre letzten Runden drehen. "Ihr habt heute Glück, wir werden sogar etwas früher eintreffen", sagt einer der Schaffner beim Ausstieg. Ich betrete erstmals seit zwei Tagen wieder festen Boden und lächle dem Schaffner gezwungen zu. Eigentlich will ich gar nicht aussteigen, würde am liebsten gleich noch einmal die Rückfahrt antreten.
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